Mit Hochsensibilität zum Wohlbefinden

Was sind die Zusammenhänge zwischen Hochsensibilität und Wohlbefinden? Dieser Frage gehe ich in diesem Artikel auf der Basis qualitativer Forschungsbefunde nach.

Qualitative Studie zu Hochsensibilität

Eine Forschergruppe hat kürzlich hochsensible Personen mithilfe eines halbstrukturierten Interviews befragt. Die Ergebnisse sind im Fachjournal Journal of Clinical Medicine veröffentlicht.

Zielstellung der Untersuchung war es, die Grundthemen oder die Essenz von Hochsensibilität sowie Strategien zur Erreichung eines hohes Wohlbefinden zu identifizieren.

Die Antworten der Befragten wurden mithilfe qualitativer Methoden ausgewertet. Die Ergebnisse sind aufschlussreich und bieten vielfältige Anregung:

  • Bezüglich der Charakteristik und der Auswirkungen von Hochsensibilität wurden sechs übergeordnete Themen und 20 Unterthemen identifiziert.
  • Im Hinblick auf Strategien zur Herstellung von Wohlbefinden konnten die Autor:innen drei Themen und neun Unterthemen identifizieren.

Diese Themen und Unterthemen stellen quasi eine Zusammenfassung dessen dar, wie Hochsensible selbst ihre Hochsensibilität erleben und was sie tun, um seelisch ausgeglichen und zufrieden zu sein.

Hochsensibilität und ihre Auswirkungen

Dies sind die Ergebnisse – eng angelehnt an die Schilderungen der Autor:innen. Die verschiedenen Unterthemen werden durchnummeriert und sind jeweils einem übergeordneten Thema zugeordnet:

  • Emotionales Reagieren: (1) Schnelles und starkes Reagieren auf negative Ereignisse, Gefühle oder Verhaltensweisen anderer sowie Darstellungen in den Medien, wie Berichte über Gewalt. Die Befragten schilderten sich als in besonders hohem Ausmaß betroffen durch solche negativen Ereignisse. (2) Besonders starkes und intensives Erleben positive Emotionen im Sinne einer Heraufregulation der positiven Emotionalität. Dies betrifft u.a. positive Gefühlsreaktionen auf Musik, Kunst und kleine Alltagsfreuden oder Ereignisse. (3) Schilderungen der Befragten, dass sie über Gefühle reflektieren und Zeit für die Gefühlsregulation bräuchten.
  • Beziehungen zu anderen: (4) Besonders Gespür für Atmosphäre und Stimmungen sozialer Situationen und anderer Menschen. (5) Hohe Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse anderer und der Wunsch, zu ihrem Wohlbefinden beizutragen. (6) Fähigkeit, die Gefühle und Absichten anderer Menschen zu verstehen und so deren Perspektive einnehmen zu können. (7) Pro-soziales Handeln auf der Grundlage der Berücksichtigung des geistig-emotionalen Zustandes anderer Personen im Sinne des Wunsches, Hilfe zu leisten. (8) Tiefes Gefühl der Verbundenheit mit allen Menschen sowie konkret mit den Menschen im eigenen sozialen Bezugsnetz. Hierzu gehörte auch das Streben, positive Gefühle der Gemeinsamkeit und Verbundenheit immer wieder zu erzeugen.
  • Denken: (9) Neigung, sich Sorgen zu machen über private und gesellschaftliche Ereignissen, einschließlich einer Tendenz, negative Dinge auf sich selbst zu beziehen. (10) Hohes Ausmaß an Nachdenken und Reflexion, einschließlich entsprechend verlängerter Entscheidungszeiten. (11) Bedürfnis für Tiefe und Bedeutung, den Wunsch, hinter die Oberfläche der Dinge zu blicken.
  • Reizüberlastung: (12) Überempfindlichkeit oder schnelle Neigung zur Überstimulation durch sensorische Reize, wie Licht, Gerüche oder Geräusche. (13) Überempfindlichkeit oder Überlastung durch soziale Situationen, wie Menschenmengen oder andere Formen sozialen Trubels. (14) Beeinträchtigungen der kognitiven Verarbeitung und Fähigkeiten durch Überstimulation, wie Aufmerksamkeitsdefizite, Konzentrationsprobleme, Unruhe oder Verminderung der Klarheit des Denkens. (15) Negative Beeinflussung der Stimmung durch Überstimulation, z.B. in Form von Gereiztheit.
  • Detailwahrnehmung: (16) Hoher Umfang der wahrgenommen Information. Die Befragten schilderten, besonders viel Informationen wahrzunehmen, sie würden weniger selektiv Informationen herausfiltern und ausblenden. (17) Ausgeprägte Wahrnehmung von Details im engeren Sinne. Die Befragten gaben an, die Welt in allen ihren Details wahrzunehmen, so achteten sie auf vielfältige auditive und visuelle Details in sozialen Interaktionen.
  • Globale Auswirkungen: (18) Hochsensibilität als ein wichtiges Merkmal der Identität und Selbst-Definition der Befragten. Hierzu gehörte aber auch oft das Gefühl von Anders-Sein und Entfremdung bis hin zu einem geringen Selbstwertgefühl. (19) Stressempfindlichkeit und reduzierte Belastung mit Hilflosigkeit und Schwierigkeiten, im Alltag zu entspannen. (20) Ermüdbarkeit oder reduziertes Energieniveau, welches die Alltagsbewältigung beeinflusst.

Ressourcen und Belastungen

Zusammenfassend ergibt sich ein Bild von Hochsensibilität als Ausdruck von Ressourcen und Belastungen:

  • Ressourcen bestehen in der Sensitivität für positive Gefühle, dem Gespür für Atmosphären und Stimmungen, der pro-sozialen Orientierung von Aufmerksamkeit und Handeln, dem Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen, der hohen Reflexion und Tiefgründigkeit des Denkens und der Wahrnehmung eines großen und gleichzeitig detaillierten Ausschnittes der inneren und äußeren Umgebung. Auch die Annahme der Hochsensibilität als Teil der eigenen Identität kann als Ressource verstanden werden.
  • Belastungen zeigen sich in negativen negativen Gefühlen, der Verzögerung der Entscheidungsfindung, mangelnder Abgrenzung und Helfer-Syndrom, Sorgen und Grübeln, Überempfindlichkeit gegenüber sensorischer und sozialer Stimulation, mangelnder Abschirmung gegenüber Reizüberlastung, Entfremdungsgefühle, reduziertem Selbstwertgefühl, Stressempfindlichkeit und schneller Ermüdbarkeit oder reduziertem Energieniveau.

Strategien zur Herstellung von Wohlbefinden

Für Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit ist für Hochsensible die Aktivierung von Ressourcen und die Regulation von Belastungen von entscheidender Bedeutung. Auch hier hat die Studie interessante Einblicke gegeben.

Es ergaben sich folgende Themen und Unterthemen:

  • Verringerung des sensorischen Inputs: (1) Bewussten temporärer Rückzug und Auszeiten, Zeiten der gewollten Einsamkeit und das Aufsuchen einer ruhigen Umgebung. (2) Strategien zum Schutz vor sensorischer Überreizung, wie Verwendung von Kopfhörern zur Geräuschunterdrückung oder Sonnenbrillen.
  • Soziale Unterstützung: (3) Bedürfnis, sich mit anderen hochsensiblen Menschen auszutauschen und sich verstanden zu fühlen. (4) Meditation, Achtsamkeit und Yoga: Die Befragten gaben an, durch Meditation, Achtsamkeitsübungen und Yoga Informationen besser integrieren und negative Gedanken und Gefühle besser hinter sich lassen zu können (siehe hierzu auch der Artikel im Gleichklang Psychologie-Blog zu den Auswirkungen von Meditation und Yoga auf Beziehungen).
  • Einsatz kognitiver Strategien: (5) Positives Denken, Akzeptanz und Reflexion, dadurch Anregung positiven Erlebens und bessere Bewältigung negativer Ereignisse und Gefühle.
  • Alltagsintegration: (6) Suche nach einem Beruf, der kongruent mit Hochsensibilität ist (siehe dieser vorherige Artikel), (7) Sport für Zwecke von Ablenkung und Ausgleich, (8) gesunde Ernährung, (9) Aufbau förderlicher Routinen und Alltagsstrukturen.

Ich habe übrigens einige Themen etwas umbenannt, um ihren Inhalt klarer zu machen.

Deutlich wird, dass Hochsensible in Auseinandersetzung mit ihrer materiellen und sozialen Umwelt Strategien entwickeln, um ihre Hochsensibilität in ihrem Alltag und ihr Leben zu integrieren und auf diese Weise, ein positives Wohlbefinden zu erreichen.

Wichtige Strategien sind hierfür Auszeiten und temporärer Rückzug, soziale Vernetzung mit Gleichgesinnten, Meditation und Yoga, positives Denken, Akzeptanz und Reflexion, aber auch passende Berufswahl, eine passende Alltagsgestaltung, sowie Sport und gesunde Ernährung.

Während für einige Strategien eine besondere Affinität zu Hochsensibilität vorliegt (Meditation, Yoga, Austausch mit Hochsensiblen, temporärer Rückzug, Schutz vor sensorischer Überlastung), sind andere Strategien allgemein weit verbreitet und wirksam (Sport, gesunde Ernährung, gute Alltagsstruktur).

Zusammenfassung

Resümee und Empfehlungen

Hochsensibilität kennzeichnet aus der Perspektive der Betroffenen insbesondere durch ein ausgeprägte emotionales Reagieren auf positive und negative Ereignisse, eine verstärkte Reflexion über Gefühle und ihre Regulation, das Spüren von Atmosphären und Stimmungen, die Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse anderer, die Fähigkeit, Gefühle und Absichten anderer Menschen zu verstehen, pro-soziales Handeln, das Gefühl einer tiefen Verbundenheit mit Menschen, vermehrtes Nachdenken und verlängerte Entscheidungszeiten, den Wunsch nach Tiefe und Bedeutung, schnelle Reizüberlastung, ausgeprägte Detailwahrnehmung und eine erhöhte Stressempfindlichkeit.

Hochsensibilität kann insofern mit Belastungen einhergehen, wie negativen Gefühlen, der Verzögerung der Entscheidungsfindung, mangelnder Abgrenzung und Helfer-Syndrom, Sorgen und Grübeln, Überempfindlichkeit gegenüber sensorischer und sozialer Stimulation, mangelnder Abschirmung gegenüber Reizüberlastung, Entfremdungsgefühle, reduziertem Selbstwertgefühl, Stressempfindlichkeit und schneller Ermüdbarkeit oder reduziertem Energieniveau.

Aber auch Ressourcen sind mit Hochsensibilität eng verknüpft in Form einer Sensitivität für positive Gefühle, dem Gespür für Atmosphären und Stimmungen, der pro-sozialen Orientierung von Aufmerksamkeit und Handeln, dem Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen, der hohen Reflexion und Tiefgründigkeit des Denkens und der Wahrnehmung eines großen und gleichzeitig detaillierten Ausschnittes der inneren und äußeren Umgebung.

Für Hochsensible ist es daher von entscheidender Bedeutung, Ressourcen zu aktivieren und zu stärken und die Bewältigung von Belastungen zu verbessern.

Für die Steigerung des Wohlbefindens sind wesentlich Schutz vor Reizüberlastung durch temporäre Auszeiten und Rückzug, soziale Unterstützung durch Vernetzung mit anderen hochsensiblen Menschen und wechselseitige Bestärkung, Praktizierung von Meditation und Yoga zur verbesserten Informations-Integration, Senkung von Belastungen und Entspannung, sowie der Einsatz von positivem Denken, Akzeptanz und Reflexion zur Herstellung positiven Erlebens und zur verbesserten Umgang mit negativen Erlebensweisen.

Hilfreich sein können ebenfalls die Suche nach einem wirklich passenden Beruf, die Herstellung einer selbstfürsorglichen Alltagsstruktur, Sport und gesunde Ernährung.

Für die partnerschaftliche Zufriedenheit – ein zentraler Bereich des Wohlbefindens – kommt der richtigen Partnerwahl und der Einsatz effektiver Strategien der Beziehungsgestaltung eine hohe Bedeutung zu. Hierüber informiert mein aktueller Artikel im Gleichklang Psychologie-Blog.

Hochsensible – dies zeigen die dargestellten Befunde in aller Deutlichkeit – brauchen keineswegs vorwiegend an ihrer Hochsensibilität zu leiden, auch wenn sicherlich die ein oder andere Belastung unvermeidbar ist.

Die gute Botschaft lautet aber, dass mit den richtigen Einstellungen und Strategien Hochsensibilität im Gegenteil eine Quelle von Lebensfreude und Glück sein kann.

About Author:

Guido F. Gebauer, studierte Psychologie an den Universitäten, Trier, Humboldt Universität zu Berlin und Cambridge (Großbritannien). Promotion an der University of Cambridge zu den Zusammenhängen zwischen unbewusstem Lernen und Intelligenz. Im Anschluss rechtspsychologische Ausbildung, Tätigkeit in der forensischen Psychiatrie und 10-jährige Tätigkeit als Gerichtsgutachter. Gründung der psychologischen Kennenlern-Plattform www.Gleichklang.de 2006. Lebt und arbeitet in Kambodscha. Schreibt für Hochsensible.eu und vegan.eu, bietet COACHING (Telefon, Video-Chat) zu Hochsensibilität und persönlicher Weiterentwicklung an.

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