Es gibt mehr als hochsensibel und nicht hochsensibel

Soeben wurde im Fachjournal Translational Psychiatry eine Studie veröffentlicht, die aufzeigt, dass es eine Vereinfachung ist, nur von hochsensiblen oder nicht hochsensiblen Personen zu sprechen.

Die Autoren untersuchten die Highly Sensitive Person-Scale und wendeten auf die Ergebnisse nachfolgend statistische Verfahren an, die als latente Klassenanalysen bezeichnet werden. Im Ergebnis ergab sich eine Dreiteilung in Personen, die als nicht sensitiv, mittelgradige sensitiv oder hoch sensitiv bezeichnet wurden.

Diese drei Gruppen unterschieden sich wiederum in Persönlichkeitsfaktoren, wie emotionale Labilität (Neurotizismus), Extraversion und tendenziell auch emotionaler Reaktivität gegenüber positiven Gefühlen. Hochsensitive Personen zeigten sich als emotional labiler, introvertierter und tendenziell stärker emotional reaktiv.

Interessanterweise entsprechen diese Ergebnisse in den inhaltlichen Aussagen auch unseren Befunden mit dem Test Bin ich hochsensibel?. Hier zeigten sich von Anfang an eine kontinuierliche Verteilung der Werte und es zeigten nachvollziehbare Unterschiede zwischen Personen, die durch den Test als nicht hochsensibel, teilweise hochsensibel oder hochsensibel klassifiziert werden. Dabei liegen die teilweise hochsensiblen Personen in allen Maßen in der Mitte – ganz offensichtlich ist es also eine Vereinfachung, nur zwischen hochsensiblen und nicht hochsensiblen Menschen zu unterscheiden. Nicht alles ist schwarz oder weiß, es gibt auch Graustufen, Hochsensible sollen dies am Besten wissen!

Dreiteilung auch noch zu einfach

Schlussendlich ist es nach meiner Einschätzung fragwürdig, ob die Dreiteilung wirklich der Stein der Weisen ist. Vermutlich sollte Hochsensibilität am ehesten als eine dimensionale Variable angesehen werden, auf der Menschen unterschiedlichste Merkmalsausprägung erreichen können. Der sogenannte Cut-Off-Punkt, ab dem entschieden wird, wie eine Person bezeichnet wird, ist letztlich durchaus mit einer gewissen Willkürlichkeit verbunden. Eine 100 % klare Lösung gibt es nicht.

Schaut man sich die aktuelle Studie an, wird diese Einschätzung durch die Befunde noch in anderer Weise gestützt:

  • Über die gesamte Skala, also den erreichten Gesamtpunktewert, zeigen sich substantielle Beziehungen von Hochsensibilität zu Extraversion, Neurotizismus und emotionaler Reaktivität. Erfolgte aber die Reduktion auf nur drei Gruppen, sanken diese Beziehungen systematisch ab und waren teilweise sogar nur noch tendenziell aufzufinden (emotionale Reaktivität).
    Durch die Reduktion der Gesamtskala auf drei Gruppen ging also offenbar durchaus wertvolle inhaltliche Information verloren. Dies spricht dafür, dass es tatsächlich nicht nur drei Gruppen gibt, sondern sich Menschen in verschiedenster Stärke im Hinblick auf vorhandene hochsensible Tendenzen voneinander unterscheiden können.

Es ist also Zeit, den vereinfachenden Gedanken aufzugeben, dass es nur hochsensible und nicht hochsensiblen Menschen gibt. Dieser Gedanke ist letztlich mit den Befunden mithilfe psychometrischer Testverfahren nicht vereinbar.

Trotzdem bleibt es sinnvoll, von hochsensiblen Menschen zu sprechen, und zwar auf die gleiche Weise, wie wir auch von hochintelligenten Menschen sprechen.
Hochintelligente Menschen kennzeichnen sich dadurch, dass sie einen sehr hohen IQ haben. In Wirklichkeit gibt es bei der Intelligenz natürlich unendliche Zwischenstufen, dennoch ist es sinnvoll, ab einem bestimmten Punkt eine Besonderheit durch einen bestimmten Namen herauszustellen.

Schließlich zeigen die Ergebnisse unseres „Hochsensibilitäts-Struktur-Test“ (HSST-Test), dass Hochsensibilität am besten als ein Phänomen mit vielen Facetten zu verstehen ist, die sich wiederum individuell unterscheiden können.

So mag es Menschen geben, die besonders sensitiv für positive Gefühle sind, während andere besonders sensitiv für negative Gefühle sind. Moralische Sensitivität, Empathie, Wahrnehmungs-Sensitivität müssen nicht immer gleichgerichtet hoch oder niedrig sein, sondern können innerhalb eines Menschen in verschiedenem Ausmaß und in verschiedene Richtungen schwanken. Der Mensch ist eben doch komplexer, als dass eine Bezeichnung mit nur einem Namen, wie Hochsensibilität, möglich wäre.

Zwar zeigen die Befunde ebenfalls, dass es sinnvoll ist, hinter all diesen verschiedenen Facetten dennoch von Hochsensibilität quasi als übergreifender Faktor hochsensitiver Verarbeitungsweisen zu sprechen. Grund hierfür ist, dass die verschiedenen Komponenten miteinander korrelieren, was darauf schließen lässt, dass hinter ihnen ein übergreifender Faktor steht. Aber das individuelle  Bild ist doch komplexer und verschiedenste Merkmals-Kombinationen und Typen können entstehen.

So wie es viele verschiedenen Arten von Vögeln gibt, sich Pinguine und Spatzen aber deutlich unterscheiden. Trotzdem ist es sinnvoll, von Vögeln zu sprechen.

Der Hochsensibilitäts-Struktur-Test soll es übrigens gerade ermöglichen, den Blick über den Tellerrand zu erweitern und sich nicht nur als hochsensibel oder nicht hochsensibel zu bezeichnen, sondern sich selbst in den unterschiedlichen Facetten möglicher hochsensitive Verarbeitungsweisen besser verstehen und einordnen zu können.

Welche Rolle für Beziehungen?

Bei unserer Partnervermittlung und Freundschaftsvermittlung bei Gleichklang legen wir allerdings weiterhin nur den übergreifenden Faktor der Hochsensibilität zugrunde und nicht die verschiedenen Facetten.

Grund hierfür ist der Folgende:

  • Je mehr Einzelfacetten zugrunde gelegt werden bei der Vermittlung, umso mehr splitten sich letztlich die Personen auf und am Ende könnte gegebenenfalls gar kein Vorschlag mehr gemacht werden. Denn wie gesagt, letztlich sind wir alle voneinander unterschiedlich.

Es geht daher darum, Informationen bewusst zu reduzieren auf solche grundlegenden Konzepte, die trotz aller Variation und Unterschiedlichkeit eine tragfähige Basis für eine zwischenmenschliche Begegnung geben können. Hochsensibilität ist nach meiner Überzeugung so eine allgemeine Komponente, die ein gegenseitiges Verstehen auch dann möglich macht, wenn sie sich in verschiedenen Facetten individuell unterschiedlich manifestiert. Sollte sich aber zeigen, dass die ein oder andere Komponente für die zwischenmenschliche Begegnung inkompatibel sind  (trotz geteilter Hochsensibilität als Gesamt-Konzept) werden wir die Vermittlung anpassen..

Resümee

Es macht weiterhin Sinn, von Hochsensibilität zu reden, auch wenn die Wirklichkeit noch viel komplexer ist.

About Author:

Guido F. Gebauer, studierte Psychologie an den Universitäten, Trier, Humboldt Universität zu Berlin und Cambridge (Großbritannien). Promotion an der University of Cambridge zu den Zusammenhängen zwischen unbewusstem Lernen und Intelligenz. Im Anschluss rechtspsychologische Ausbildung, Tätigkeit in der forensischen Psychiatrie und 10-jährige Tätigkeit als Gerichtsgutachter. Gründung der psychologischen Kennenlern-Plattform www.Gleichklang.de 2006. Lebt und arbeitet in Kambodscha. Schreibt für Hochsensible.eu und vegan.eu, bietet COACHING (Telefon, Video-Chat) zu Hochsensibilität und persönlicher Weiterentwicklung an.

3 thoughts on “Es gibt mehr als hochsensibel und nicht hochsensibel

  1. Ein höherer Intelligenzquotient kann eine Hochsensibilität verstärken. Hochsensibilität ist in jetzigen Kultur eine Belastung. Diese Aspekte zur Ergänzung.

  2. Hallo,
    dazu kommt noch, dass Hochsensible die in Städten wohnen, durch das mittlerweile hoch frequentierte G-Netz sowie andere Netze wie W-lan oder Bluethooth, einem andauernden und bewußt wahrnehmbaren Stress ausgesetzt sind.
    Das ist sehr anstrengend zum Teil.
    Beste Grüße

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